Wednesday, October 1, 2014

A short story long.

A short story long.
Grenzen der Kunst und warum Rezeption scheitern koennen muss.

To make a short story long (1)
Unter den Erzeugnissen zeitgenoessischer Kunst, die nicht einfach nur Dekoration oder Befindlichkeitskanalisierung sind, begegnen uns zu einem nicht geringen Anteil solche, die wir 'inszenierte Umstaendlichkeiten' nennen koennten. Etwas, das 'auch einfacher gesagt werden koennte', wird verkompliziert, verklausuliert, um mehrere Ecken transportiert, auf nicht sehr direktem Wege sublimiert und/oder codiert. Dabei wird mit Referenzsystemen nicht gegeizt, denn es gibt ja nun mal auch sehr viele Dinge die interessant genug sind, um sich auf sie zu beziehen oder Bezuege anzudeuten, innerhalb und ausserhalb der Kunstgeschichte, im aktuellen oder nicht ganz aktuellen Weltgeschehen, in verschiedenen wisschenschaftlichen Feldern, in der Populaerkultur, in Religionen usw.
Fuer mich als Kunstrezipienten wie auch als durchaus gern umstaendlich denkenden und umstaendlich gestaltenden Kuenstler stellt sich immer von neuem die Frage, ob ein hoher kuenstlerischer Komplexitaetsgrad einem Reflektionsangebot gleichkommt oder eher dem Obskurantismus dient, oder aber einem elitaeren Spezialistentum das sich im Kern der demokratischen Teilhabe verschließt.

Oeffnung der Rezeption / Demokratie-Erzaehlungen
Das mit der Demokratisierung der Kunst ist ja auch nicht so einfach. Demokratie im besten Sinne, also eine Pluralitaet der selbstgewaehlten Muendigkeiten, koennen wir als ein Ideal begreifen, das auf verschiedenen Ebenen erkaempft werden muss – und der Kampf, sofern man ihn aufnimmt, fuehlt sich oft genug aussichtslos an, denn das Ideal wird uns einfach nicht nahegelegt, schon gar nicht als einfach umzusetzende Lebensrealitaet. Die Diskrepanz zwischen Ideal und Realitaet(en) impliziert also den verwinkelten Umweg, die eigenstaendige und nur begrenzt planbare 'tour de force'.
Die Demokratisierung der Kunst, wie sie die Avantgarden des 20. Jahrhunderts, Joseph Beuys usw. forderten und mit relativ einfachen Gebrauchsanleitungen schnell umsetzbar erscheinen lassen wollten, ist eine Erzaehlung des progressiven Oeffnung.
Die gesamtgesellschaftliche Erzaehlung von Demokratisierung und von progressiver Oeffnung gipfelte in den Ereignissen des Jahres 1989, als der sogenannte Eiserne Vorhang fiel und ein bestimmter Freiheitsbegriff (als zeitgleich beobachtbare Realitaetswerdung) mit einer Simultan-Mobilisierung durch Massenmedien in nie dagewesener Weise ineinandergriff.
Die Teilhabe der Massen, der sogenannten einfachen Menschen im Schulterschluss mit den faktischen Eliten und Meinungsproduzenten schien unaufhaltbar. Die Mobilisierung durch Massenmedien und Kulturindustrie war eine emotionale, die zugleich eine progressiv-aufklaererische zu sein behauptete.
Es faecherte sich ein Medienpanorama auf, in dem sich jeder nach eigenem Gusto bedienen konnte; der Reflektionsgrad war je nach Beduerfnis und Selbsteinschaetzung frei waehlbar, der Hunger nach Sensation und Sentiment ein optionaler Zusatzstoff oder wahlweise auch die Essenz.
Einen historischen Moment lang erschien die demokratische Mitbestimmung als eine unbremsbare Kraft, die die Machtverhaeltnisse unweigerlich durcheinanderwirbeln wuerde und durch die unvermeidbare Veraenderung der (Welt-)Wahrnehmung auch unser aller Art zu beurteilen und zu handeln veraendern wuerde.
Was davon bei aller Ernuechterung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geblieben ist, ist die Ueberzeugung, dass die Art der Rezeption fuer jeden von uns frei waehlbar ist …. sei es die Rezeption von tatsaechlichen, bedeutsamen Ereignissen, oder sei es die Rezeption von Kunst und Kultur, die je nach Lesart als Begleiterscheinungen des Weltgeschehens dienen – mal kommentierend, mal sublimierend, mal scharf kritisierend, mal bewußt verdrehend oder utopistisch brechend.
Was hat dies nun alles mit unserem eigentlichen Anliegen, der multisensorialen Kunst zu tun? Eine Menge, finde ich.

Multisensorialitaet
Thomas Gerwin betont bei dem Festival »Hoeren:multisensorial«, dass es darum geht, die kuenstlerische Praxis und die damit stimulierte Wahrnehmung als 'ganzheitlichen Akt' aufzufassen.
Bei aller Kritik am Begriff der Ganzheitlichkeit bleibt festzustellen, dass das Am-Leben-sein, fragmentiert und inkohaerent wie es de facto ablaeuft, die Ganzheitlichkeit aller (jeweils verfuegbaren) Sinne zur Grundlage hat. Wir sind also ganzheitlich wahrnehmende Wesen, und wir moegen es (zumindest im 'dinglichen' Alltag, in der 'Dingwelt') ueberhaupt nicht, wenn einer unserer Sinne blockiert wird.
In Bezug auf den medialen (>mittelbaren) Alltag wiederum stellt es sich schon anders dar. Dort sind wir gewohnt, uns zu allererst zweidimensional-visuell zu orientieren, um uns ein Ensemble aus Text, Grafik/Bildern und auditiven Informationen zu erschließen, welches sich dann im besten Fall als 'stream of consciousness' formieren kann, im Normalfall als zu erledigende Arbeit und im rasch zunehmenden Maße auch als 'stream of distraction', als Zerstreuung und Prokrastination, als (arbeits-)alltagsbegleitende interaktive Mikro-Freizeit mit zuweilen neurotischen Tendenzen.
Wir sprechen nun vom Internet-Zeitalter, von der partizipativen Digital-Welt.
Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die kulturellen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und die Ereignisse von 1989 uns die Auffassung (und Selbstverstaendlichkeit) von Wahrnehmungsdemokratie beschert haben, noch vor Beginn des Internet-Zeitalters. Diese Auffassung haben wir ins Internet-Zeitalter mitgenommen und an die Generation(en) von Internet-Nutzern weitergegeben, die zu jung sind, um sich an das 20. Jahrhundert erinnern zu koennen.
Ich halte es fuer einen gewaltigen Fortschritt in der sogenannten Westlichen Welt, dass die massenpsychologische Doktrin des Richtig-oder-falsch-verstehens, auf Grundlage eines Richtig-oder-falsch-wahrnehmens, bis auf weiteres suspendiert wurde. Daraus hat sich ein Selbstverstaednis des 'ganzheitlich wahrnehmenden' Menschen etabliert, das ein streng subjektives und nicht generalisierbares Ineinandergreifen von Wahrnehmungen und deren Verarbeitungen voraussetzt – egal wie und in welchen Situationen er, der ganzheitlich wahrnehmende Mensch, Sinnes-Prioritaeten setzt.
Die Kunst kommt nicht umhin, darauf zu reagieren. Zumindest muss sie es mitdenken, auch wenn sie es nicht direkt thematisiert oder in ihre Form einfließen laesst.
Die Kunst, sowohl die mit dem elitaeren Selbstverstaendnis als auch die mit den besten Demokratisierungs-Absichten und all jene irgendwo dazwischen, hat das Richtig-Lesen aufgegeben; sie traegt gemeinhin der Tatsache Rechnung, dass jede/r einzelne Rezipient/in eine vollkommen subjektive Art des Erlebens 'mitbringt', und somit aktiv am veroeffentlichten Dasein des einzelnen Kunstwerkes teilnimmt.
Eine multisensoriale Kunst kann (muss?) sich in besonderem Maße auf dieses subjektive Erleben beziehen.

Grenzen der Kunst / Dehnbarkeit des Demokratiebegriffs
Wir haben bisher nicht von Manipulation gesprochen. Wir haben bisher nicht von Naivitaet gesprochen, die einen gewissen Freiheitsbegriff und die Huldigung der Subjektivitaet als 'Ich-bin-so-wie-ich-bin'-Gefuehl/Gedanken unangenehmerweise mit der Anfaelligkeit fuer Manipulation verbindet. Wir haben bisher nicht von Beliebigkeit gesprochen, welche die Freiheit und die unangreifbare Subjektivitaet mit der Gefahr der Redundanz, des Steckenbleibens, der kommunikativen Sackgasse verbindet.
Es genuegt vielleicht, diese Begriffe einfach nur einzustreuen, ohne weitere Ausfuehrungen, um auf ein ganzes Feld von Schwierigkeiten bezueglich der Wahrnehmungsdemokratie hinzudeuten.
Der Demokratiebegriff war bis vor 25 Jahren ziemlich klar definiert; zumindest wurde er mit Vehemenz verteidigt gegen jene, die als seine Feinde ausgemacht wurden, und er wurde als ein lebbares (gleichwohl kompromissbehaftetes) Ideal zum Maßstab gesellschaftlicher Verantwortung hochgehalten.
Die durchoekonomisierte Alltagswelt unterliegt einem marktwirtschaftlich definierten Begriff von Erfolg. Ein entsprechendes Streben nach Erfolg dient zunehmend als Maßstab allen menschlichen Handelns, und allein deshalb wird der Demokratiebegriff ausgesprochen dehnbar. Gesellschaftliche Verantwortung im althergebrachten Sinne und Erfolgsstreben im intensivierten Sinne reiben sich aneinander; ihre Vereinbarkeit ist der Stoff großangelegter Legitimierungskampagnen –  und die Abfallprodukte dieser Legitimierungskampagnen sind Worthuelsen wie 'Nachhaltigkeit', 'Sozialvertraeglichkeit', 'Unternehmensethik' und 'Life-Work-Balance'.
Eine Kulturproduktion, die diese Worthuelsen unhinterfragt uebernimmt, oder einen damit kompatiblen 'state of mind' zeitigt, somit in die marktwirtschaftlichen Bedingungen des Erfolgsstrebens einwilligt und sie zu legitimieren hilft, hat offenkundig ein Problem. Aber das groeßere, weil spuerbarere Problem hat sie moeglicherweise, wenn sie versucht sich dezidiert davon abzugrenzen, ohne in Zynismus zu verfallen bzw. in jene Art von Obskuritaet, die wahlweise auf Redundanz hinauslaeuft, oder auf Sektierertum, oder auf Elfenbein-Spezialistentum. Kurzum, die Kunst hat es aeußerst schwer, einen approbaten Platz jenseits des Mitmachens wie auch jenseits der Redundanz produzierenden Abgrenzung einzunehmen.
Die Kunst kann nicht alles leisten… und es waere perfide, Problemloesungen von ihr zu verlangen, die in allen anderen Gesellschaftsbereichen unmoeglich erscheinen oder schon im zaghaften Versuch auf der Strecke bleiben.

To make a short story long (2)
Die Kunst spielt mit Wahrnehmung, das ist ihre Aufgabe, so einfach laeßt sich das vielleicht festhalten.
Was jede/r einzelne, und 'die Gesellschaft als Ganzes' damit anfaengt, ist erst einmal offen. Die oben erwaehnte 'inszenierte Umstaendlichkeit' ist ein mehr oder weniger naheliegender Schritt, wenn das Spiel mit der Wahrnehmung ernsthaft verfolgt wird. Oder, vielleicht gar nicht so 'ernsthaft', wenn die Verspieltheit sich lustvoll potenziert und auch mal verrueckt spielt, zumal sie es hier darf. Den Kuenstler/innen wird die Moeglichkeit zugesprochen, Umwege zu gehen, den Erfolgsbegriff minimal zu verschieben bzw. gewisse Abweichungen vom Effizienzgebot und vom gradlinigen 'Aufstreben' zu erproben. Auch das gewaltige Scheitern wird den Kuenstler/innen zugestanden, unter Umstaenden, als voruebergehende Episode, mitunter als Zugewinn an Erfahrung, Reife und 'credibility'.
Freilich definiert der Eintritt in die Welt des Marktwertes letztendlich den Erfolg, unabhaengig von Produktionsbedingungen und persoenlichen Verfasstheiten.
Welche Rolle haben nun die Rezipienten? Sie nehmen aktiv an der Kunstwerdung teil, so viel wissen wir inzwischen. Sie sorgen u.a. fuer die Aufmerksamkeit, fuer die Oeffentlichkeitswirksamkeit, die letztendlich den Marktwert der gewordenen Kunst mitbestimmt. An den weiteren oekonomischen Bedingungen, an den Verwertungsbedingungen, haben sie keinen Anteil, in dieser Hinsicht wird den 'gewoehnlichen' Rezipienten keinerlei Mitspracherecht eingeraeumt.
Das Verrueckte ist: obwohl die Subjektivitaet des Rezipierens inzwischen allgemeine Anerkennung genießt, wird – zumindest unterschwellig – ein 'richtiges' Rezipieren nahegelegt, oder gar verlangt… sobald die Oekonomie ins Spiel kommt.
Die inszenierte Umstaendlichkeit waere also moeglicherweise eine Strategie, dieser Formel von richtiger und falscher Rezeption, die es ja eigentlich gar nicht mehr geben sollte, zu entgehen. Getreu dem Motto: Was nicht so leicht zu entschluesseln ist, ist auch nicht leicht einzuordnen, also zu verwerten, also auszubeuten … ein Verwirrspiel, um 'Zeit zu gewinnen'? Es darauf zu reduzieren, wuerde auch nur wieder auf eine Form der Hilflosigkeit (oder des Zynismus) hinauslaufen, unter dem Diktat der gegeben Bedingungen die Akteure ein wenig zappeln zu lassen und, zynisch (=oekonomisch) betrachtet, den Einsatz zu erhoehen.
Sicher trifft dies in vielen Faellen zu.
Eine andere Lesart (oder: Anwendungspraemisse) der inszenierten Komplexitaet waere die radikale Re-Demokratisierung der Wahrnehmung. Unabhaengig vom meßbaren oekonomischen Erfolg einer solchen Kunst, aber unter sehr genauer Beobachtung der oeffentlichen Wirkung(en) und der Moeglichkeit anknuepfbarer (bzw. ausloesbarer) Diskurse, kann hier die Reflektionsebene, das Reflektionsangebot unter voller Anerkennung der Subjektivitaeten und der subjektiven Grenzen, hervorgehoben werden. Ein Austausch, ein Erfahrungs- und Gedankenaustausch, die subjektiven Wahrnehmungen betreffend, optimalerweise in Kontext gesetzt mit verschiedenen Aspekten der gelebten Realitaet, waere das Ziel (… und der Weg).
Eine multisensoriale Kunst, auch dort wo sie in ihrer Form und Umsetzung 'simpel gestrickt' erscheinen kann, sollte immer eine hochkomplexe (und auf komplexe Weise subjektive) Auswirkung auf ihre Rezipienten haben.
Die Kunst muss nicht kurze Geschichten lang und ausgedehnt erzaehlen. Das erledigen die Rezipienten, auch wenn sie (noch) keine Begriffe fuer das Erlebte haben.
Der Rezipient muss scheitern koennen, so wie es den Kuenstler/innen, zumal den wirklich experimentierenden, zugesprochen wird. Da die Rezipienten aktiv an der Kunstwerdung teilhaben, koennen sie inmitten eines Prozesses noch nicht dessen naechstes (Teil-)Ergebnis abschaetzen, und wahrscheinlich auch ihren eigenen Beitrag nicht eindeutig benennen oder bewerten. Das Nicht-Verstehen, das irgendeine Form von Nachdenken und Beschaeftigung mit der eigenen Wahrnehmung befoerdert, ist sicher hilfreicher als das Verharren in der Binaritaet eines Richtig-oder-falsch-verstehens.
Und all das muss nicht anstrengend sein; als Teil eines ausgedehnten Spiels mit der Wahrnehmung kann jede/r einzelne die Art von Verspieltheit einbringen, die sich im subjektiven Rahmen der eigenen Wahrnehmung, und vielleicht auch darueber hinaus, ergibt.


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